Reinhard Kirchner
Die Europäische Union hat das Jahr 2003 zum Europäischen Jahr der Menschen mit Behinderung ausgerufen. Auch in Bayern hat die Bayerische Staatsregierung beschlossen, im Rahmen dieses Europäischen Jahres ein landesweites Aktionsprogramm „Na und!" durchzuführen, mit dem Ziel, „die Aufmerksamkeit für die Situation von Menschen mit Behinderung zu wecken und politisch und gesellschaftlich Unterstützung für behinderte Menschen zu demonstrieren und zu organisieren".
In der Landesarbeitsgemeinschaft „Hilfe für Behinderte in Bayern" e.V. (LAGH), Dachorganisation von derzeit 87 landesweit tätigen Behindertenselbsthilfeorganisationen, in der Menschen mit unterschiedlicher chronischer Erkrankung und Behinderung vertreten sind, machen wir jedoch immer wieder die Erfahrung, dass von einer Integration, geschweige denn von einer „Normalität" im Verhältnis zwischen behinderten und nicht behinderten Menschen noch lange nicht die Rede sein kann.
Allein die Frage, wer in unserer Gesellschaft als behindert zu gelten habe, ist nicht generell beantwortbar. Im Allgemeinen wird bei der Beurteilung, wer behindert ist, das Schwerbehindertenrecht des SGB IX zugrunde gelegt, das einen prozentualen Gradmesser von „Behinderung" (GdB) festlegt, um die Voraussetzungen für Leistungen und Ansprüche chronisch kranker und behinderter Menschen zu regeln (z.B. Freifahrt für die Begleitperson, Rundfunkgebührenfreiheit, etc.).
Zu bezweifeln bleibt allerdings, ob ein solcher - scheinbar - objektiver Gradmesser den Problemen von Menschen mit einer chronischen Krankheit oder Behinderung gerecht werden kann. Hinzu kommt, dass ein auf dieser Grundlage von medizinisch feststellbaren „Defekten" zustande gekommenes Bild vom Menschen mit einer Behinderung dazu geführt hat, dass in der Öffentlichkeit nur vom „Behinderten" und nicht vom „Menschen mit einer Behinderung" gesprochen wird. Für die bei uns zusammengeschlossenen Selbsthilfeverbände gibt es aber nicht den „Behinderten" (als sei Behindertsein eine Wesensbestimmung des Menschen) sondern nur Menschen mit einer Behinderung, mit einem „Handicap", genauso wie es nur Menschen mit braunen oder blonden Haaren gibt.
In den letzten Jahrzehnten waren es insbesondere junge behinderte Menschen und hier die Gruppe der in der Mobilität beeinträchtigten Personen und Rollstuhlfahrer, die darauf aufmerksam gemacht haben, dass man nicht als Behinderter geboren wird, sondern durch die Gesellschaft zum Behinderten gemacht wird.
Ein Rollstuhlfahrer ist ja nicht an sich behindert, sondern er erfährt sich dann als benachteiligt gegenüber anderen Personen, wenn er unüberwindbare Barrieren (Treppen, nicht behindertengerechte Zugänge zu Verkehrsmitteln etc.) vorfindet.
Behinderung ist nach unserer Definition: „...jede Verhaltensweise, Maßnahme oder Struktur, die Menschen mit nicht nur vorübergehenden körperlichen, geistigen oder seelischen Beeinträchtigungen Lebensmöglichkeiten nimmt, beschränkt oder erschwert".
Die durch den medizinischen Fortschritt neu entflammte Diskussion vom „werten und unwerten Leben" hat fatalerweise das gesellschaftliche Bewusstsein vieler Menschen in der Weise erreicht, dass die Meinungvorherrscht, eigentlich dürfte es heute keine Menschen mit Defekt oder Behinderung geben. Junge Mütter können bei Kenntnisnahme von möglicher Behinderung des Embryos sich fast bis zur letzten Schwangerschaftswoche entscheiden, ob sie abtreiben möchten. Es ist leicht vorstellbar, wie sich ein Mensch mit einer Behinderung bei einer solchen Diskussion fühlen muss.
Hinzu kommt, dass es zwar für Menschen mit chronischer Krankheit und Behinderung ein breites Angebot von Förderung und Hilfsmaßnahmen gibt, gleichzeitig hat dieses gut ausgebaute Angebot von Sonderförderungen und -hilfen aber auch dazu geführt, dass diese Personengruppen von den allgemeinen gesellschaftlichen Angeboten (z.B. Kultur- und Freizeitprogramme, Teilnahme am Verkehr etc.) mit der Begründung ausgeschlossen werden, dass es ja spezielle Angebote für Menschen mit Behinderung gibt (z.B. Behindertenfahrdienst).
Eine Folge dieser Entwicklung ist auch, dass bis heute in der Öffentlichkeit Menschen mit einer Behinderung nur relativ selten anzutreffen sind. Man kennt Menschen nur von den Medien - oder wenn es in unmittelbarer Nachbarschaft eine größere Behinderteneinrichtung gibt. Jugendliche, die in Einrichtungen leben, haben in der Regel nur wenig Kontakt zu nicht behinderten Jugendlichen. Und wenn es sich nicht um ein durch Fachleute initiiertes Integrationsprojekt handelt, dann finden Begegnungen zwischen Jugendlichen mit und ohne Behinderung kaum statt.
In der Diskussion um Integration und Teilhabe muss es nach Vorstellung der bei uns angeschlossenen Behindertenselbsthilfeorganisationen im Wesentlichen darum gehen, einen möglichst normalen Umgang zwischen behinderten und nicht behinderten Menschen zu erreichen. Dies ist realisierbar, wenn die Ängste auf beiden Seiten gezielt abgebaut werden. Es muss angestrebt werden, dass möglichst viele Begegnungen zwischen „Nichtbehinderten" und behinderten Menschen in allen gesellschaftlichen Bereichen stattfinden, damit Erfahrungen gemacht werden und sich durch diese Erfahrung langfristig vielleicht auch eine Änderung des Bewusstseins in den beteiligten Personen einstellt.
Chronisch kranke und behinderte Menschen sollen sich nicht nur über ihre behinderungsbedingten Probleme äußern können, sondern müssen auch zu allgemeinen gesellschaftlichen Themen gefragt sein. Bis heute gibt es z.B. kaum Fernsehsendungen, bei denen Menschen mit einer Behinderung wegen ihrer fachlichen Kompetenz eingeladen werden.
Im Kampf um die Emanzipation betroffener chronisch kranker und behinderter Menschen hat unsere LAGH in den vergangenen Jahren immer wieder deutlich gemacht, dass über Integration, Normalität und Normalisierung im Verhältnis zwischen Behinderten und Nichtbehinderten nur dann ernsthaft gesprochen werden kann, wenn man die Forderung nach einem selbstbestimmten und soweit wie möglich eigenständigen Leben auch für diesen Personenkreis unterstützt. Nach wie vor machen chronisch kranke und behinderte Menschen immer wieder die Erfahrung, dass Helfer und Fachleute sich anmaßen zu entscheiden, was für diesen Personenkreis das Beste sei. Selbst gut gemeinte Hilfsangebote dürfen keinem Selbstzweck dienen, sondern müssen im Kontext und im Aushandeln mit dem Betroffenen umgesetzt werden.
Das mittlerweile in Kraft getretene Bundesgleichstellungsgesetz für Menschen mit Behinderung und die noch im Jahr 2003 geschaffenen Landesgleichstellungsgesetze sind hoffnungsvolle Ansätze für den Abbau von Barrieren und für die Verwirklichung des Prinzips der Selbstbestimmung. In diesem Zusammenhang ist die Verankerung der Interessen- und Selbstvertretung chronisch kranker und behinderter Menschen in solche Gesetze von zentraler Bedeutung. Die LAGH ist eine dieser Strukturen der Selbst- und Interessenvertretung chronisch kranker und behinderter Menschen auf Landesebene.
Eigentlich müsste man annehmen, dass Ziele, wie Selbstbestimmung, das Streben nach Eigenständigkeiten und Autonomie der Menschen mit chronischer Krankheit oder Behinderung von allen gesellschaftlichen Gruppen uneingeschränkt unterstützt werden. Leider müssen betroffene chronisch kranke und behinderte Menschen immer wieder die Erfahrung machen, dass aufgrund von unterschiedlichen Interessenslagen und finanziell knappen Ressourcen in der Behindertenhilfe und einer oftmals gleichgültigen Öffentlichkeit der Weg zu einer „Normalität“ noch sehr weit ist.